Neues Soziales Wohnen im Kontext aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen

von Ingrid Breckner

Das Thema Wohnen stand in Europa lange nicht mehr so zentral auf der Tagesordnung gesellschaftspolitischer Diskurse wie dies gegenwärtig der Fall ist. Insbesondere in Großstädten mit hohem Zuzugsdruck stellt die neue Wohnungsfrage ein Topthema und eine große Herausforderung aktueller Stadtpolitik dar. Es wird protestiert gegen steigende Bestands- und Neubaumieten und die Verdrängung von Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen in periphere Wohnlagen mit unzureichender infrastruktureller Versorgung.

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In Berlin wurde trotz anhaltenden Streits und der Androhung juristischer Klagen - nach einem erfolgreichen Bürgerbegehren zur Verstaatlichung großer privater Wohnungsunternehmen - eine zeitlich befristete Deckelung der Wohnkosten in allen Wohnungsbeständen beschlossen. Hamburg und andere deutsche Großstädte versuchen mit einer Erneuerung und intensiveren Anwendung des Erbbaurechts steigende Bodenpreise zumindest abzufedern und so bezahlbaren Neubau zu ermöglichen. Andererseits verweigern einige deutsche Finanzämter privaten Vermietern bezahlbaren Wohnraums, Werbungskosten in Verbindung mit der Vermietung abzusetzen, wenn sie nicht bereit sind, Mieten deutlich über dem Niveau der lokalen Mietspiegel zu verlangen und tragen so zum weiteren Anstieg von Wohnkosten bei.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen haben in europäischen Großstädten zu einer solchen Zuspitzung der Wohnungsfrage geführt? Die Beantwortung dieser einfachen Frage erfordert eine tiefere Auseinandersetzung mit sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken, die auch auf städtischen Wohnungsmärkten ihre Spuren hinterlassen. In einem solchen gesellschaftspolitischen Spiegel wird erkennbar, inwiefern eine Internationale Bauausstellung zum Neuen Sozialen Wohnen selbst in Wien sinnvoll ist, das im internationalen Vergleich aufgrund seines langjährig gepflegten kommunalen Wohnungsbestandes immer wieder als Mekka des sozialen Wohnens hervorgehoben wird.

Demographische und soziokulturelle Trigger der Wohnungsfrage.

Seit mindestens 30 Jahren wissen wir, dass die Bevölkerung in vielen europäischen Ländern stagniert oder sogar schrumpft, wenn die Geburtenzahlen Sterbeziffern trotz ansteigender Lebenserwartung nicht mehr ausgleichen (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2017). Nationale Durchschnittswerte lenken jedoch von der Tatsache ab, dass die Bevölkerungsentwicklung räumlich sehr unterschiedlich verläuft: In den meisten europäischen Ländern existieren urbane Wachstumspole mit anhaltendem nationalem und internationalem Zuzug junger, gut ausgebildeter Menschen, die sich leichtere Zugänge zu zukunftsfähigen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen erhoffen. So erhöhte sich die Einwohnerzahl von Wien im Zeitraum 2009 - 2019 um 217.356 Personen (vgl. Statistik Austria 2019) und in Berlin im selben Zeitraum sogar um mehr als 350.000 Personen (vgl. Blanken 2019). Das sind Wachstumsraten in der Dimension von Großstädten, die sich auch in erhöhter Nachfrage nach Wohnraum, Grünräumen und Infrastruktur niederschlagen. Sie werden schon seit einigen Jahren unter dem Stichwort der Reurbanisierung diskutiert und untersucht, die sich auch in Mittelzentren und im Umfeld kompakter Kleinstädte feststellen lässt (vgl. Scholich 2019; Matthes 2016). Vorwiegend ländlich geprägte Räume mit mangelhafter Infrastrukturausstattung sind jedoch in vielen europäischen Ländern durch Bevölkerungsschrumpfung gekennzeichnet. Unternehmen und Dienstleistern fehlen vor allem in schrumpfenden Gebieten zunehmend Arbeitskräfte. Sie hoffen deren Mangel durch Zuwanderung ausgleichen zu können. Gelingt es jüngere Menschen aus dem nationalen Umfeld, dem europäischen Ausland oder aus Drittstaaten anzulocken, wird der Bevölkerungsrückgang durch sie und ihre oftmals höheren Geburtenraten zwar abgemildert, aber allen Prognosen zufolge langfristig nicht gestoppt. Zuwanderung trägt zur Verjüngung und kulturellen Vielfalt der Bevölkerung bei, bei gleichzeitig fortschreitender Alterung. Deshalb ist in Bezug auf nationale Durchschnittswerte zwar nach wie vor der Diagnose zuzustimmen, dass die Bevölkerung in wirtschaftlich stabilen europäischen Ländern weniger, älter und bunter wird (vgl. Eichner 2003). Dennoch verweisen alle Studien zum demographischen Wandel darauf, dass es notwendig ist, Entwicklungen der Bevölkerungszahl, ihrer Altersstruktur und kultureller Diversität räumlich differenziert zu betrachten, um jeweils regional angemessene Handlungskonzepte in der Wohnungs-, Umwelt- und Infrastrukturpolitik zu konzipieren und umzusetzen. Wachstumsinseln mit jüngerer und heterogenerer Bevölkerung entstehen nur dort, wo Arbeitsplätze das notwendige Einkommen absichern, bedarfsgerechte Infrastruktur die Erziehung von Kindern, gesundheitliche Versorgung, Kommunikation und Mobilität sowie die Versorgung alter Menschen erleichtert und wo Toleranz und interkulturelle Verständigung das Zusammenleben trotz steigender Diversität unterstützen. Bevölkerungsschrumpfung geht häufig mit Ressentiments und politischer Resignation einher und erfordert auch deshalb Maßnahmen, die zu einer grundlegenden Vitalisierung betroffener Regionen beitragen.

Bevölkerungswachstum allein ist jedoch nirgendwo ein Garant für ausgeglichene soziale Lebenslagen. Auch auf Wachstumsinseln leben jüngere und ältere Menschen in prekären Einkommensverhältnissen. Wohnungsmärkte sind in Wachstumsregionen durch überdurchschnittlich steigende Wohnkosten insbesondere in privaten Beständen gekennzeichnet. Sie ergeben sich aus der hohen Nachfrage nach Wohnraum, die nicht nur durch Zuwanderung, sondern auch durch die steigenden Anteile von Ein-Personen-Haushalten bedingt ist. Gleichzeitig etablierte sich vielfach ein frei finanziertes Luxussegment auf dem Wohnungsmarkt mit überdurchschnittlichem Flächenkonsum, da Investoren von besser situierten Nachfragegruppen profitieren wollen, die sich größere Wohnungen in attraktiven Lagen leisten können. Schwierigkeiten der Wohnraumversorgung entstehen in allen gesellschaftlichen Räumen für Nachfragegruppen mit geringen Einkommen und solche, die aufgrund ihrer Herkunft, kinderreicher Haushalte oder gesundheitlicher Einschränkungen in der Konkurrenz um die allerorts unzureichenden bezahlbaren Wohnungen nicht berücksichtigt werden, weil es genügend andere Nachfrager gibt.

Ökonomische und politische Dimensionen aktueller städtischer Wohnungsnot.

Städtische Wohnungsnot kann in der europäischen Gegenwart nicht allein demografisch erklärt werden. Zukunftsfähige Arbeitsmärkte entwickelten sich auch während der jüngsten technologischen Transformationsprozesse zuerst in und im Umfeld urbaner Zentren, die schon immer als Labore gesellschaftlichen Wandels fungierten. Sie sind infolge anhaltender wirtschaftspolitischer Unterstützung gut erschlossen, versammeln notwendige Qualifikationen und bieten - trotz urbaner Belastungen durch Lärm und schlechte Luft - attraktive Lebensbedingungen für diejenigen Menschen, die beruflichen Erfolg und die vielfältigen urbanen Qualitäten dem „Glück im Grünen“ vorziehen. Seit sich das Sparen infolge unattraktiver Zinsniveaus kaum mehr lohnt, konzentrieren sich in wirtschaftlichen und sozialen Wachstumsregionen auch lukrative Investitionsmöglichkeiten in gewerbliche und Wohnimmobilien, für deren Herstellung und Finanzierung die erforderlichen Unternehmen und Dienstleister bereitstehen.

Investitionen in das sogenannte „Betongold“ florierten in der Vergangenheit auf allen Märkten mit Bevölkerungswachstum und trugen - bei fehlender politischer Regulation - zu überdurchschnittlichen Steigerungen der Preise für Miet- und Eigentumswohnungen sowie der Bodenpreise bei (vgl. Metzger 2018). Städte erkennen zwar inzwischen - wie schon in den 1970er Jahren - dass Bauland nicht vermehrbar ist und sie selbst Bodenbevorratung betreiben müssen, wenn sie Entwicklungen auf Wohnungsmärkten und damit auch ihre räumliche und soziale Zukunft beeinflussen wollen. Alle anderen Mittel, Wohnkosten zu senken, sei es durch Regulierungen von Mietpreisen, soziale Erhaltungssatzungen und die Ausübung von Vorkaufrechten bei Immobilientransfers erweisen sich eher als „Tropfen auf den heißen Stein“ der Wohnungsnot in einem von Finanzialisierungsprozessen geprägten Wohnungsmarkt (vgl. Heeg 2013; Fields/Uffer 2016).

Wenn zudem - wie in Deutschland - Finanzämter höhere Mieten erzwingen, als es die stetig steigenden Niveaus der örtlichen Mietspiegel zulassen[1], wird verständlich, warum Bürger immer weniger auf die inzwischen etwas optimierte deutsche „Mietpreisbremse“ vertrauen, die für sie nur schwer handhabbar ist. Wohnungseigentum bleibt bei steigenden Kosten für all diejenigen eine Illusion, deren Löhne und Gehälter auch bei niedrigen Zinsniveaus nicht ausreichen, um ein „Dach über dem Kopf“ in überschaubarer Zeit zu finanzieren. Sie sind wie alle Haushalte außerhalb der Erwerbsphase nach wie vor auf geförderten Wohnraum angewiesen, dessen Herstellung seit Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland so sträflich vernachlässigt wurde. Insbesondere Großstädte bemühen sich zwar inzwischen um einen Ausgleich dieses Defizits durch verstärkte Neubauanstrengungen, stoßen dabei aber immer wieder auf Gegenwehr gut organisierter Bevölkerungsgruppen, die beanspruchen, dass sich die Stadt zumindest in ihrem Umfeld nicht verändern soll. Befürchtet werden durch geförderte Wohnungen sinkende Immobilienwerte, eine Heterogenisierung der Nachbarschaft und eine damit verbundene Konfrontation mit Fremdheiten infolge unterschiedlicher Zuwanderungsprozesse (vgl. Arouna et al. 2019).

Was kann eine IBA zum Neuen Sozialen Wohnen angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen leisten?

Zentrale Aufgabe und wichtige Zielsetzung der IBA_Wien ist es, soziale Fragen des Wohnens wieder ins Zentrum stadtpolitischer Aufmerksamkeit zu rücken. Sie kann dabei an historischen Errungenschaften des Wiener Gemeindebaus anknüpfen, dessen Wirkungen auf das urbane Zusammenleben aus heutiger Sicht neu akzentuieren und mit unterschiedlichen innovativen Neubauten zukünftige wirtschaftliche, ökologische, politische und soziale Handlungsperspektiven erweitern. Dabei spielen nicht nur neue Gebäude und die Erneuerung und zeitgemäße Anpassung älterer Anlagen eine Rolle; auch innovative Akteurskonstellationen, Träger- und Finanzierungsmodelle, Wettbewerbs- und Partizipationsverfahren, ökologische Innovationen sowie hybride Nutzungen können bei allen Projekten wichtige Bewertungsmaßstäbe sein.

Da die IBA_Wien im städtischen Raum stattfindet, steht sie auch vor der Herausforderung der Einbettung einzelner Projekte in ihren jeweiligen städtischen Kontext. Das beginnt mit dem Bezug eines Projekts zum umgebenden Quartier und erfordert deshalb bereits auf der Mikroebene eine intelligente Vernetzung jeweils vorhandener institutioneller, wirtschaftlicher und sozialer Ressourcen. Nur so können IBA-Projekte auch zur Entwicklung von zentralen wie peripheren Stadtteilen beitragen, die von unterschiedlichen Nutzergruppen als lebenswert betrachtet werden und damit einer sozialräumlichen Spaltung der Stadt entgegenwirken. Dazu bedarf es einer infrastrukturellen Ausstattung aller Quartiere im Umfeld von IBA-Projekten mit sozialen, kulturellen und Bildungseinrichtungen sowie einer Weiterentwicklung der in Wien schon jetzt vorbildlichen Mobilitätsangebote.

Nicht zuletzt kann eine IBA auch als Think-Tank wirken mit den bereits stattfindenden IBA-Talks, internationalen Konferenzen, Publikationen und Forschungsprojekten. Solche Formate des Dialogs und Wissenstransfers erweitern im Idealfall den Horizont von Fachleuten in der Wohnungswirtschaft und Stadtpolitik und bereichern das kulturelle urbane Zusammenleben mit neuem Wissen über die veränderten Aufgaben und Möglichkeiten einer neuen Gestaltung sozialen Wohnens in Verbindung mit anderen stadtpolitischen Herausforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung, globaler Mobilität von Gütern und Menschen oder politischer Polarisierung.

 

Literatur

Arouna, Mariam; Breckner, Ingrid; Ibis, Umut; Schröder, Joachim; Sylla, Cornelia (2019): Fluchtort Stadt. Explorationen in städtische Lebenslagen und Praktiken der Ortsaneignung von Geflüchteten. Wiesbaden: Springer.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2017): Europas demografische Zukunft. Wie sich die Regionen nach einem Jahrzehnt der Krisen entwickeln. https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Europas_demografische_Zukunft_2017/Europa_online.pdf (Abgerufen: Oktober 2019)

Blanken, Tobias (2019): Quittung in fünf Jahren. In: DIE ZEIT Nr. 44/2019, 12.

Eichner, Volker (2003): Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Wohnungsmärkte. In: Wohnungswirtschaft und Mietrecht, Heft 11 (November 2003), 607-612.

Fields, Desiree; Uffer, Sabina (2016): The financialisation of rental housing: A comparative analysis of New York City and Berlin. In: Urban Studies 53/7, 1486-1502.

Heeg, Susanne (2013): Wohnungen als Finanzanlage. In: https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/5/104 (Abgerufen: Oktober 2019)

Matthes, Gesa (2016): Reurbanisierung und Verkehr. Schriftenreihe des Instituts für Verkehrsplanung und Logistik hrsg. von Heike Fläming und Carsten Gertz. Münster: Münsterscher Verlag für Wissenschaft.

Metzger, Joscha (2018): Betongold: Wohnungen und Immobilien als Kapitalanlage. http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216876/wohnungen-und-immobilien-als-kapitalanlage (Abgerufen: Oktober 2019)

Scholich, Dietmar (2019): Reurbanisierung zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Ein Blick auf nordwestdeutsche Städte und Regionen. Arbeitsberichte der ARL 27. Hannover: ARL.

Statistik Austria. (2019). Bevölkerung von Wien von 2009 bis 2019. Statista. Statista GmbH. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/317867/umfrage/prognose-zur-bevoelkerungsentwicklung-in-wien/ (Abgerufen: Oktober 2019)

 


[1] Grund hierfür ist die in Deutschland geltende bundesgesetzliche Regelung für die Berechnung von Mietspiegeln, die nur Neuvermietungsmieten eines bestimmten Zeitraums als Maßstab berücksichtigt, die immer höher sind als die jeweiligen Bestandsmieten in einem Geltungsraum.